Ende für den Vorrang der Freiberuflichkeit

Die neue Art. 15a-Vereinbarung über die Finanzierung und Organisation des Gesundheitswesens stellt nun erstmals, seit beinahe 70 Jahren, den Vorrang der freiberuflich tätigen Kassenärzte vor eigenen Einrichtungen der Krankenkasse infrage. Kassenambulatorien können nun uneingeschränkt für die Versorgung der Bevölkerung herangezogen werden. Darüber hinaus besteht künftig auch die Möglichkeit, dass der Stellenplan ohne ärztliche Beteiligung verändert wird. Ist das der erste Schritt in eine verstaatlichte Medizin?

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Das ASVG (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz) trat mit 1.1.1956, vor immerhin 68 Jahren, in Kraft. Schon in der Stammfassung fand sich die Bestimmung des §338 Abs. 2 ASVG. Diese Bestimmung enthielt einen ausdrücklichen Vorrang der freiberuflich tätigen Kassenärzte vor eigenen Einrichtungen der Kassen (Kassenambulatorien). Auch die seinerzeitigen Erläuterungen des Ministeriums zur Regierungsvorlage machten deutlich, dass der Gesetzgeber keinen staatlichen Gesundheitsdienst mit angestellten Ärzten schaffen wollte. Das Anliegen der Ärzteschaft, auf freiberuflicher Basis mit eigenen Ordinationen Kassenpatienten zu behandeln, wurde ernst genommen.

Kassenarzt vor Ambulatorium ade

Nach den bisherigen Bestimmungen war es der Kasse nur dann möglich Kassenleistungen in eigenen Kassenambulatorien anzubieten, wenn im betreffenden Versorgungsgebiet der Bedarf nicht durch freiberufliche Kassenärzte abgedeckt werden konnte. Ein Kassenambulatorium durfte außerdem nur dann errichtet oder erweitert werden, wenn die Landesärztekammer ihre Zustimmung erteilte. Konnten sich Krankenkasse und Landesärztekammer nicht einigen, musste die Landesregierung prüfen, ob der Versorgungsbedarf mit Hilfe von Kassenärzten gedeckt werden konnte oder zusätzlich ein Kassenambulatorium errichtet bzw. erweitert werden sollte. Diese Bestimmungen galten analog auch für den Kassenzahnärztlichen Bereich.

Dieser Vorrang der niedergelassenen freiberuflichen Kassenärzte gegenüber der Leistungserbringung in Kassenambulatorien wurde mit 1.1.2024 auf Grund der neuen Art. 15a-Vereinbarung über die Finanzierung und Organisation des Gesundheitswesens, nach fast 70jähriger Geltung, gestrichen. Nach dem Willen der Politik sollen Kassenambulatorien in Zukunft uneingeschränkt zur Versorgung herangezogen werden können. Die Krankenkasse kann selbst entscheiden, ob sie Leistungen lieber durch ihre Kassenambulatorien erbringen lässt oder Kassenverträge abschließt.

Stellenplan einseitig abänderbar

Parallel dazu wurden auch die Regelungen über den kassenärztlichen Stellenplan geändert. Bisher wurde der Stellenplan für Kassenärzte im Rahmen des sogenannten Gesamtvertrages einvernehmlich zwischen Kasse und Ärztekammer vereinbart. Für eine Änderung des Stellenplans benötigte die Kasse bisher die Zustimmung der Ärztekammer.

Künftig wird der kassenärztliche Stellenplan im Rahmen des Regionalen Strukturplans Gesundheit (RSG) zwischen Land und Kasse vereinbart. Die Ärztekammer hat hier nur noch die Möglichkeit zur Abgabe einer unverbindlichen Stellungnahme. Sollte im Stellenplan keine Einigung zwischen Kasse und Land erzielt werden, kann der Dachverband der Sozialversicherungsträger die Kapazitätsplanung für die Kassenärzte sogar einseitig durch Verordnung festlegen. Das bedeutet, dass seit Beginn des Jahres schlimmstenfalls auch Kassenstellen gestrichen werden könnten, um Platz für Kassenambulatorien zu schaffen. Und das ohne Zustimmung der Ärzteschaft.

Paradigmenwechsel

Mit der Gleichstellung von Kassenambulatorien und freiberuflichen Kassenärzten wurde ohne Zweifel die Tür zur verstaatlichten Medizin aufgestoßen. Für Länder mit sogenanntem „Bismarck-System“, wozu etwa Österreich, Deutschland, die Benelux-Staaten und Frankreich zählen, die sich durch eine von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanzierte Sozialversicherung kennzeichnen, galt bisher folgendes Merkmal als charakteristisch: Die ambulante Medizin wurde primär durch freiberuflich, als selbständige Unternehmer tätige Ärzte erbracht. Man kann hier also von einem Paradigmenwechsel in der ambulanten Versorgung sprechen. Es bleibt nun abzuwarten, inwieweit in Zukunft diese gesetzliche Option zur Verstaatlichung der ambulanten Medizin genutzt werden wird.

Linzer Institut für Gesundheitssystem-Forschung (LIG)
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