Englands schwieriger Patient – der NHS

„Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen Pfund. Lasst uns lieber den NHS finanzieren.“ Das versprach 2016 der britische Premier Boris Johnson der Bevölkerung vor dem berühmt-berüchtigten roten Bus der Brexit-Befürworter.

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Von den einstigen Ankündigungen der Pro-Brexit-Kampagne ist wenig übriggeblieben. Der staatlich finanzierte Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) blieb auch nach dem EU-Austritt unterfinanziert, keine Spur von den angekündigten wöchentlichen 350 Millionen Pfund.

Im Gegenteil die Brexitfolgen stellen den englischen Gesundheitsdienst vor zusätzliche Probleme. Mit 1,6 Millionen Beschäftigen gilt der NHS als einer der größten Arbeitgeber weltweit und lange Zeit waren Arbeitskräfte aus der EU eine wichtige Stütze für das britische Gesundheitswesen. Unmittelbar vor dem EU-Austritt arbeiteten in etwa 23.000 Ärzte aus der EU beim NHS. Mit dem Brexit entfiel die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Zahl der unbesetzten Stellen im National Health Service erreichte einen neuen Höchststand. Rund 130.000 Stellen sind mittlerweile im NHS unbesetzt und die gegenwärtige Einwanderungspolitik erschwert die Suche nach Gesundheitspersonal. In Kombination mit der jahrelangen Sparpolitik der Regierung und der Corona Pandemie ergab sich daraus die tiefste Krise des englischen Gesundheitssystems seit der Gründung des NHS im Jahr 1948.

Zahlreiche Herausforderungen

Die Briten sind, was ihr Gesundheitssystem betrifft, mittlerweile zwiegespalten. Jahrelang überwiegte in der Bevölkerung der Stolz auf ihren staatlichen Gesundheitsdienst, finanziert hauptsächlich aus allgemeinen Steuermitteln. Mittlerweile brachten langjährige Einsparungen, ein anhaltender Arbeitskräftemangel und eine gewisse Gratis-Mentalität den NHS in eine Notlage, dessen Auswirkungen für die Briten immer mehr spürbar wird.

Die Krise im britischen Gesundheitswesen spitzt sich zu. Nicht ohne Grund kündigte der neue Premierminister Keir Starmer einige Wochen nach seiner Wahl tiefgreifende Reformen im NHS an. Dies solle die „größte Umgestaltung" des NHS seit seiner Gründung vor 76 Jahren werden. Angesichts der Tatsache, dass Starmers Mutter lange Jahre als Krankenpflegerin für den NHS gearbeitet hat, ist sein Reformwille vielleicht höher, als jener seiner Vorgänger.

Der Premierminister nannte für die kommenden Jahre drei große Ziele:

  • vermehrter Einsatz digitaler Technologien und die Einführung einer elektronischen Patientenakte
  • die Verlagerung eines größeren Teils der Gesundheitsversorgung aus den Krankenhäusern in die Gemeinden
  • eine „mutigere" Verlagerung des Schwerpunkts von Krankheit auf Prävention

Sein Gesundheitsminister Wes Streeting sieht durchaus auch Platz für die Privatmedizin in Großbritannien. Das eine müsse das andere nicht unbedingt ausschließen, meinte er in einer seiner ersten Reden. Dass dieser Paradigmenwechsel im Vorzeigeland des staatlichen Gesundheitssystems nicht von allen goutiert wird, war abzusehen. Widerstand ist also vorprogrammiert.

Streetings setzt in seinen Reformplänen stark auf dezentralisierende Maßnahmen. Der NHS ist eine nationale Organisation, mit regionaler Untergliederung. Seit 1992 ist die Mehrzahl der öffentlichen Krankenhäuser in Form von Trusts organisiert. Der neue Gesundheitsminister plant die Einführung eines Bewertungssystems für die 217 NHS-Trusts. Bisher bestanden für den einzelnen Trust kaum Anreize, Überschüsse zu erwirtschaften, denn diese mussten an die zentrale NHS-Organisation abgeführt werden. Zukünftig sollen gut wirtschaftende Trusts einen Teil ihres Kapitals behalten dürfen, um nach eigenen Maßgaben investieren zu können. Herangezogen für die geplante Bewertung sollen die medizinischen Angebote für Patienten, das Finanzmanagement und die Krankenhausleitung werden.

Es bleibt abzuwarten, ob es der neuen Labour-Regierung gelingen wird, den maroden NHS nachhaltig zu reformieren.  Oberste Priorität hat dabei sicherlich die Reduktion der langen Wartezeiten in der Notaufnahme und die Wartelistenproblematik für elektive Eingriffe, welche im Jahr 2023 mit rund sieben Millionen wartenden Patienten einen neuen Höchststand erreicht hat.

 

Mag. Sabine Weißengruber-Auer, MBA
Linzer Institut für Gesundheitssystem-Forschung