Im ersten Vortrag des Nachmittags von Mag. Franz Kiesl (ÖGK) fanden sich viele Hard Facts, wie die zeitliche Entwicklung und die Anzahl der Primärversorgungseinheiten: Im Jahr 2015 wurde die erste PVE in Wien gegründet, 2017 war es dann in Oberösterreich (Enns) so weit. Heuer wurden in Österreich insgesamt 30 neue PVEs gegründet – bis Ende des Jahres werden 107 Primärversorgungseinheiten existieren, davon 14 Kinder-PVE (OÖ: 19 PVEs, davon 1 Kinder-PVE). Das ambitionierte Ziel der Gesundheitspolitik: 300 PVEs bis 2030.
Was ist eine PVE?
Kiesl stellte auch klar, worum es sich bei einer PVE eigentlich handelt: Primärversorgungseinheit ist eigentlich ein Überbegriff und beinhaltet Primärversorgungszentren (PVZ) und Primärversorgungsnetzwerke (PVN). Beim PVZ gibt es nur EINE örtliche Niederlassung, während dem PVN mehrere Niederlassungen angehören. Im Kernteam einer PVE sind Allgemeinmediziner:innen und Kinderärzt:innen, diplomiertes Gesundheitspersonal und Ordinationsassistent:innen tätig. Im erweiterten Team einer PVE können je nach Ort und Bedarf andere Gesundheitsberufe, wie Ergotherapeuten, Diätologen, Logopäden, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und auch ein PVE-Manager beschäftigt werden. Das Besondere daran ist, dass die Kosten für dieses Personal von der Krankenkasse (aus Mitteln der Länder) übernommen werden. Der Hintergrund: die Länder finanzieren PVEs mit, weil man sich durch die Einrichtungen eine Entlastung der Spitäler erwartet. Die erweiterten Öffnungszeiten, der niederschwellige Zugang, das erweiterte Leistungsangebot und die eventuell mit den PVEs geschlossenen Versorgungslücken sollen die Patient:innen in die PVEs, statt in die Krankenanstalten lotsen.
Arbeitsbedingungen
Junge Menschen wollen heute anders arbeiten. Flexible Arbeitszeitmodelle stehen hoch im Kurs und der Wunsch nach mehr medizinischen und weniger bürokratischen Tätigkeiten ist stark. Das Arbeiten im multiprofessionellen Team ohne organisatorische Verantwortung – das kann in einem Primärversorgungszentrum ermöglicht werden. Frau Dr. Katharina Winkler, Allgemeinmedizinerin im PVZ Enns, formulierte es in ihrem praxisnahen Vortrag sehr treffend: „Das Gute am Team: du bist nie allein. Das Schlechte am Team: du bist nie allein.“ Das Arbeiten im Verbund ist für Winkler das, was eine PVE im Kern ausmacht: „Die neue Generation von Ärzt:innen weiß das interdisziplinäre Team auch zu nützen. Sie füllen Formulare nicht mehr selbst aus und geben etwa Gespräche über Ernährungsgewohnheiten ganz selbstverständlich an die Diätolog:innen ab.“ Für sie persönlich ist das PVZ die richtige Wahl, denn die Ärztin hat vor ihrer Tätigkeit im PVZ Enns in einer Gruppenpraxis und in einer Einzelpraxis gearbeitet und wünscht sich nicht zurück. „Ich musste mich damals nach den ärztlichen Aufgaben noch um die Nachbestellung des Klopapiers und die Buchhaltung kümmern. Heute gehe ich nach dem letzten Patienten nach Hause.“ Durch die freigewordene Zeit kann die Allgemeinmedizinerin z.B. auch wieder selbst Wunden nähen. Und auch die Familienplanung lässt sich gut mit einer Stelle im PVZ vereinbaren: „Als ich in der Einzelpraxis schwanger wurde und bei der Kasse anrief, bekam ich zu hören, dass dieser Fall nicht vorgesehen sei. In einer PVE ist das aber kein Problem.“ Freilich ist der Ärztin aber bewusst, dass anderen Kolleg:innen die Freiheit und Eigenständigkeit, die eine Einzelpraxis mit sich bringt, durchaus zu schätzen wissen. Präsident Dr. Niedermoser betonte, dass die PVE nur eine Blume in einem Strauß der Möglichkeiten in der niedergelassenen Versorgung ist. „Die Politik muss dafür Sorge tragen, dass die heutigen Anforderungen an Arbeitsbedingungen mit den zur Verfügung stehenden Modellen erfüllt werden können, um die niedergelassene Versorgung sicherzustellen. Eine Stelle muss attraktiv sein, damit sie auch besetzt wird.“
Einzelpraxis ade?
„Die Vorteile der Primärversorgungszentren, die ich prinzipiell für großartige neue Arbeitsformen halte, bringen gewisse Neidgedanken in den Einzelpraxen auf, die sich derzeit auf das Abstellgleis gestellt fühlen.“, sagte Dr. Johanna Holzhaider, Sektionsobfrau der Ärzt:innen für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Für dasselbe Honorar müssen dort auch die unternehmerischen und organisatorischen Aufgaben mitübernommen werden. Außerdem können Einzelpraxen ihren Patient:innen den Service anderer Gesundheitsberufe im Haus nicht anbieten, die in der PVE sogar kostenfrei sind. Das klingt nach einer systematischen Benachteiligung. „Es muss für Gleichheit gesorgt werden, denn das ist nicht nur unfair, sondern führt auch zu einer Wettbewerbsverzerrung.“, meinte Holzhaider. Natürlich können sich Einzelpraxen aber zu Primärversorgungsnetzwerken zusammenschließen.
Daneben soll das erweiterte Team zukünftig auch in Einzelpraxen Einzug halten. Andreas Huss, Obmann der ÖGK, informierte, dass derzeit das Konzept der „Pflege- und Therapiepraxen“ entwickelt werde. Die Idee sei, die Therapieberufe in einem Haus unterzubringen. Dort gäbe es dann ebenfalls erweiterte Öffnungszeiten und die umliegenden Einzelpraxen könnten dann auf ein bestimmtes Kontingent der dort angebotenen Leistungen zugreifen.
„Die Einzelpraxis ist nach wie vor sehr wichtig, denn 80 Prozent der Praxen sind immer noch Einzelpraxen. Die anderen 20 Prozent sind Gruppenpraxen und PVEs.“, beruhigte Dr. David Wachabauer, der den Bereich Primärversorgung in der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) leitet. Auch in Wien habe man noch 80 Prozent Einzelpraxen, nicht nur am Land. In anderen europäischen Ländern wäre das absolut unvorstellbar. Huss ergänzte: „Auch mit den geplanten 300 PVEs bis 2030 könnten maximal 30 Prozent der Bevölkerung versorgt werden. Einzelpraxen werden daher immer einen hohen Stellenwert haben.“
Aus für EU-Förderung
Beim Thema PVE und Zukunft kam schnell die Frage nach den auslaufenden Fördergeldern der EU auf. Wachabauer war in diesem Punkt sehr klar: „Nein, weitere Fördermittel der EU werde es nicht geben, denn diese waren als reine Anschubfinanzierung gedacht.“ Die Unterstützung wäre gut angenommen worden und habe, wie gewünscht, eine Systemveränderung in Richtung PVEs angestoßen. Die PVZ-Ärztin Dr. Winkler ist sich aber sicher: „Der Sparstift wird kommen. Es sollte jedoch mit uns und nicht an uns gespart werden.“
Kiesl führte in seinem Vortrag an, welche Punkte in PVEs künftig verstärkt angegangen werden sollen: die Versorgung chronisch kranker Menschen, die Gesundheitsförderung und Prävention und die psychische Gesundheit. Darüber hinaus soll eine gezielte Ausweitung des Leistungsangebots die Spitalsentlastung forcieren (z.B. kleine Chirurgie, Wundversorgung). Fachärzt:innen, wie etwa Gynäkologi:innen, sollen in die PVEs verstärkt einbezogen werden. Soll es in Zukunft neben der Pädiatrie, der Gynäkologie und der Inneren Medizin auch andere Facharzt-PVEs geben? Dr. Wachabauer beantwortete auch diese Frage mit einem klaren Nein, denn das würde das Konzept der Primärversorgung verwässern. „Aber Fachärzte könnten immer als Einzelpraxis örtlich in eine PVE integriert werden und eng mit dem Team zusammenarbeiten.“
Frau Dr. Winkler riet zu einer friedlichen Co-Existenz zwischen allen möglichen Modellen in der Niederlassung, denn letztlich müsse es für Ärztinnen und Ärzte die Wahl geben. Huss sprach sich für eine generelle Forcierung der Hausarztmedizin aus, egal mit welchem Modell. Denn 25 Prozent der Österreicher:innen haben derzeit keinen Hausarzt, wodurch viele dieser Patient:innen in die Spitäler kommen würden.
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