Lange Wartelisten fördern Privatmedizin

Großbritannien ist eigentlich dafür bekannt, dass sehr wenige Menschen Wahlärzte oder Privatkrankenhäuser nutzen. Derzeit kämpft das öffentlich finanzierte Gesundheitswesen NHS aber mit langen Wartelisten, die für Patientinnen und Patienten ausgedehnte und vor allem unvorhersehbare Wartezeiten nach sich ziehen. Daher weichen immer mehr Menschen auf private Alternativen aus.

Im vergangenen Jahr entschieden sich 272.000 Menschen dazu für eine Operation oder eine Diagnostik in die eigene Tasche zu greifen. Im Vorjahr waren es noch 262.000 Menschen und vor der Pandemie im Jahr 1999 nur 199.000 Menschen, eine ordentliche Steigerung also. Weitere 547.000 Personen ließen ihre Behandlung von einer privaten Krankenversicherung begleichen – auch hier ist ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. In den Privatspitälern kam es ebenfalls zu weiteren Anstiegen von stationär und ambulant behandelten Patienten.

Diese Daten lassen vermuten, dass die private Bezahlung von Gesundheitsleistungen das neue „Normal“ werden könnte. Der Grund dafür liegt in der Unfähigkeit des National Health Service, für vertretbare Wartezeiten zu sorgen. „Für manche Menschen ist es kostengünstiger eine Behandlung selber zu bezahlen, als nicht arbeiten zu können, während sie auf eine Knie- oder Hüftoperation warten.“, erklärt Ian Gargan, CEO des Private Healthcare Information Network (PHIN).

Am häufigsten wurde im letzten Jahr in Privatspitälern für Graue-Star-Operationen, Chemotherapien, diagnostische Untersuchungen des oberen Gastrointestinaltrakts, Darmspiegelungen zur Untersuchung auf Darmkrebs und das Einsetzen einer neuen Hüfte in die eigene Tasche gegriffen.

Stimmen aus Keep Our NHS Public bezeichnen es als „beschämend“, dass sich immer mehr Menschen dazu gezwungen fühlen in das private Gesundheitssystem auszuweichen, weil die Regierung den NHS vernachlässigt. Aber es sei auch nicht weiter überraschend, dass sich mehr und mehr Menschen für eine private Versorgung entscheiden, wenn die Regierung den NHS fast zum Zusammenbruch bringt.

Auch Brett Hill, Analyst bei der Beratungsfirma Broadstone, ist davon überzeugt, dass der unglaubliche Druck auf den NHS, einschließlich der Rekordwartezeiten, den privaten Gesundheitssektor pusht. Kurz- bis mittelfristig erwartet er auch keine Entspannung der Situation im NHS und daher ein weiteres Voranschreiten dieser Entwicklung in Richtung Privatmedizin. Der Trend sei aber auch darauf zurückzuführen, dass immer mehr Arbeitgeber eine private Krankenversicherung für ihre Mitarbeiter abschließen, fügt Hill an.

In Kürze sollen Patienten dazu ermutigt werden, verstärkt ihr Wahlrecht zu nutzen, sich entweder in einem öffentlichen oder privaten Spital behandeln zu lassen. Das soll helfen den Rekordrückstand von 7,3 Millionen Krankenhausaufenthalten abzubauen.

 

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Quelle

The Guardian