Niederlande: einstiges Vorzeigeland in Sachen Krankenversicherung

Das niederländische Krankenversicherungssystem ist ein von großen Reformen geprägtes. Immer wieder mussten Änderungen vorgenommen werden, um vorhandene Schwächen auszubügeln. Nun könnte bald wieder eine Systemanpassung notwendig werden.

Krankenversicherung seit 2006

2006 wurde mit einem Gesetzespakt ein einheitlicher Krankenversicherungsmarkt geschaffen, für den bereits in den 90ern wichtige Schritte gesetzt wurden. Wesentliche Bausteine des Krankenversicherungssystems sind seither die Allgemeine Versicherungspflicht, die jeden Bürger dazu verpflichtet, das gesetzlich vorgeschriebene Basispakt bei einem Unternehmen seiner Wahl abzuschließen, und ein freier Wettbewerb, durch den Versicherte ihre Versicherung frei wählen können, Versicherungen im Bereich des Basispaketes jedoch niemanden ablehnen dürfen (Kontrahierungszwang). Zusätzlich gibt es einen Risikostrukturausgleich zwischen den Versicherungen.

Ziele der Reform waren vor allem mehr Effizienz durch Wettbewerb, Kostendämpfung und die langfristige Sicherstellung der Finanzierung, aber auch mehr Solidarität durch gleichen Zugang zum Gesundheitswesen zu gleichen Bedingungen. Darüber hinaus sollte eine verantwortungsbewusste Nutzung von Leistungen durch einen nach oben begrenzten Selbstbehalt gefördert werden.

Wo der Schuh drückt

Nun, beinahe 20 Jahre nach der letzten umfassenden Strukturreform, scheint es wieder im System zu haken. Denn die Ziele der Reform wurden bis dato nur bedingt erreicht. Etwa dominieren nur wenige Unternehmen den Markt und ein eher geringer Anteil der Menschen wechselt tatsächlich die Versicherung, was dem Wettbewerb schadet. Aber auch auf der Seite der Leistungsanbieter gibt es eine hohe Marktkonzentration, etwa durch den Zusammenschluss von Spitälern. Im Bereich der Kostendämpfung konnte bisher wenig erreicht werden. Erst durch erhebliche Anhebungen der Selbstbehalte und eine Reduktion der Leistungen im Basiskatalog konnte ab 2012 eine Kostendämpfung erzielt werden.

Laut dem Rat für Volksgesundheit und Zusammenleben (RVS, Raad Volksgezondheid & Samenleving), einem Gremium, das der Regierung und dem Parlament in den Niederlanden beratend zur Seite steht, gibt es bereits seit längerem Probleme, die derzeit hauptsächlich ältere, multimorbide und chronisch kranke Personen betreffen, und sich bei Tatenlosigkeit auf andere Personengruppen ausweiten werden. Immer mehr Menschen finden in den Niederlanden nicht mehr die Gesundheitsversorgung, die sie eigentlich benötigen würden, daher spricht sich der RVS für eine radikale Überholung der Organisation des Gesundheitswesens aus.

Maßnahmen

Einige der Probleme sind in den Niederlanden gleich wie in vielen Ländern Europas: zu wenig Personal, zu geringe Löhne und eine alternde Bevölkerung. Darüber hinaus ist das niederländische Gesundheitswesen viel zu komplex und zu sehr fragmentiert, sodass sich viele Patienten darin nicht zurechtfinden können und nicht die für sie passende Behandlung erhalten. Das liege auch daran, dass konkurrierende Unternehmen im Gesundheitswesen mehr auf Kostenreduktion als auf eine Zusammenarbeit mit andern Anbietern fokussiert sind. Laut dem Rat für Volksgesundheit und Zusammenleben (RVS) würden 10 Prozent der Menschen mit komplexen Gesundheitsproblemen bereits Schwierigkeiten haben eine optimale Gesundheitsversorgung zu bekommen.

Deshalb wird empfohlen den Wettbewerb aus großen Bereichen des Gesundheitssystems herauszunehmen. Dies betreffe die Grundversorgung (Hausärzte und Gemeindekrankenschwestern), die Bezirkspflege, die psychologische Gesundheitsversorgung und die Notfallversorgung. Weniger Regelungen und eine geringere Zahl von Anbietern würden sich hier vorteilhaft auswirken.

Der jährliche Selbstbehalt ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen, nämlich von 150€ (2008) auf 385€ (2017). Im Jahre 2021 beendeten nun bereits 8 Prozent der Patienten eine notwendige Behandlung, weil sie ihren Selbstbehalt nicht mehr bezahlen konnten. Das kommt auf lange Sicht dem Gesundheitswesen teuer zu stehen, denn viele dieser Menschen benötigen dann in späterer Folge noch kostenintensivere Behandlungen.

Aus Sicht des RVS sollten die Prämien einkommensabhängiger gestaltet und die Basisprämie dafür reduziert werden. Leistbare Prämien würden auch zu weniger Unterstützungsleistungen im Gesundheitswesen führen, welche ohnehin zu komplex wären, weshalb sie viele Anspruchsberechtigte erst gar nicht beantragen würden. Es bleibt nun abzuwarten, welche Ratschläge des RVS die niederländische Regierung sich zu Herzen nimmt und wie und wann diese Umgesetzt werden.

 

Historischer Abriss

•    Bis 1941 besteht ein rein privates, freiwilliges Krankenversicherungssystem, das auf dem Gegenseitigkeitsprinzip und einem Sachleistungssystem beruht und durch ein von Alter und Gesundheitszustand unabhängiges Prämiensystem finanziert wird.
•    Deutsche Besatzungszeit: Wechsel zur Versicherungspflicht für Arbeitnehmer unter einer bestimmten Einkommensgrenze. Krankenversicherung erhält öffentlich-rechtlichen Charakter. Krankenversicherungen weiter privatrechtlich organisiert, müssen jedoch staatlich genehmigt werden (Versicherungsaufsicht).
•    1950er: private Krankenversicherungen für nicht Pflichtversicherte entstehen, die Prämienhöhe und Leistungsumfang frei gestalten können.
•    1980er: Beginn der gesetzlichen Regulierung von Privatversicherungen betreffend Leistungsumfang und Prämiengestaltung. Zunehmende staatliche Eingriffe führen zu einer starken Angleichung der gesetzlichen und privaten Versicherung.
•    1990er: Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung wird möglich, wichtige Schritte für die Reform 2006 werden gesetzt (freie Versicherungswahl, Selektivvertragsgestaltung).